Tobias Gürtler

AUS DER NEUEN LIEBESWELT – Einführung zur Ausstellung von Tobias Gürtler

AUS DER NEUEN LIEBESWELT

 

Bevor wir zum feierlichen Akt der Illumination des Herzens der Welt kommen, ein paar Worte zum inneren und äußeren Anlass des Abends an diesem vielleicht schönsten Ort Bielefelds.

 

Nachdem letzte Woche in Berlin offiziell das Postpsychotische Welttheater als Universelles Gesamtkunstwerk von mir verkündet wurde, das sich unter dem Motto „Total offen, aber nicht ganz dicht“ zum Ziel gesetzt hat, den Gegensatz zwischen Wahn und Sinn in der sich stets vertiefenden Einsicht zu überwinden, dass das ganze Universum völlig wahnsinnig ist, bin ich nun im Recht, wenn nicht gar in der Pflicht, mich je nach Bedarf jederzeit und überall öffentlich zum Narren zu machen, um damit auch mein Publikum zum Narren zu halten. Und was könnte närrischer sein als die Liebe, von der schon die alten Weisen von Orient bis Okzident wussten, dass allein sie uns über den Alltag, seine Normen und Zwänge hinauszutragen vermag?

 

Die Titel gebende „Neue Liebeswelt“ nimmt Bezug auf die gleichnamige Utopie Charles Fouriers, der als Frühsozialist und einer der Gründerväter der Soziologie gilt. Anders als Marx, der sich nahezu ausschließlich auf die Arbeit als Grundlage des Menschlichen Zusammenlebens konzentrierte, erkannte Fourier die Notwendigkeit einer freien und befreiten Libido für eine soziale, gerechte und harmonische Gesellschaft, in der auch die Arbeit frei und selbstbestimmt wäre. Seiner Zeit weit voraus, stellt seine Vision gewissermaßen Marx und Freud in einen unmittelbaren Zusammenhang.

 

Fourier knüpft deshalb an die menschlichen Leidenschaften und ihre Entfaltung, ihren „Aufflug“, als Triebfeder der individuellen und gesellschaftlichen Befreiung an. Die wichtigste Leidenschaft ist für Fourier die Liebe in all ihren Erscheinungsformen. Sie ist für ihn die mächtigste Verbindungskraft und die bedeutendster Antrieb der menschlichen Evolution. Wie kein anderer fragt Fourier nach den grundlegenden Bedingungen für geglückte Liebe und Sexualität. Wie kann das menschliche Zusammenleben organisiert werden, damit die Liebe in Freiheit und somit das soziale Glück überhaupt an Geltung gewinnen kann? Jeder Fortschritt – der ökonomische, politische, soziale, philosophische und religiöse – hat nur dann einen Sinn, wenn dabei die Liebe in Freiheit vorankommt. Fourier macht deutlich: eine freie Gesellschaft ist eine Gesellschaft der freien Liebe

 

Dabei ließe sich seine Vision auf das Sprichwort „Jedem Tierchen sein Pläsierchen“ zusammenfassen. Homo-, Hetero-, Bisexualität, Polyamorie, Transgendereien, Fetische aller Art, selbst gewöhnliche Zweisamkeiten kämen zu ihrer einvernehmlichen Geltung, wenn die die Freiheit lähmende Bigotterie und ihre Doppelmoral, die auch heute noch jedes soziale Gefüge missgestalten, überwunden werden sollen. Die dahingehenden Experimente der Generation der 68er und der Hippiebewegung haben zwar wichtige Vorarbeit geleistet, mussten jedoch in ihrer Beliebigkeit und Oberflächlichkeit scheitern, da sie sich später zu leichtfertig in den Dienst des Kapitals stellen ließen und zu einer nahezu alles durchdringenden Kommerzialisierung der Sexualität führten. Die Zeit war nicht Reif für ein umfassenderes Gelingen.

 

Warum nun sollte die Neue Liebeswelt jetzt und in Bielefeld ihren Anfang nehmen?
Dazu als nur kurzer Anriss der letzte Absatz aus dem Buch „Ich, Wendepunkt“ meines Chronisten und Alter Egos Jakob Adamek:

In Bielefeld bin ich bestimmt deshalb gelandet, weil man da wegen Bethel, dieses eigenartigen Behindertenghettos, so wunderbar bekloppt sein kann. Außerdem ist es die durchschnittlichste, schon sprichwörtlich gewordene langweiligste Stadt Deutschlands, dermaßen ‚normal’, dass sie ein ideales Setting für meine Genesung vom Irresein abgeben konnte. Nicht umsonst kursiert seit Mitte der Neunziger die sogenannte Bielefeld-Verschwörung im weltweiten Netz: „Bielefeld existiert gar nicht…“. Bielefeld ist so langweilig, da veröden sogar die Hämorriden von alleine

 

Ich komme aus dem Nirgendwo, dem Nirvana. Nach Berlin, mein Jerusalem. „Kann denn aus Bielefeld etwas Gutes kommen?“ Ja: Ich, Wendepunkt!

 

„Siehe, ich mache alles neu!“

Bielefeld liefert in seiner nebulösen Nichtexistenz – tradiert schon von Udo Lindenberg über die Bielefeld-Verschwörung bis hin zu ihrem immer noch provinziellen Dasein als große Kleinstadt, die weder Fisch noch Fleisch sein will – die ideale Schnittstelle zwischen Sein und Nichtsein, die seit jeher die Quelle aller Liebe ist, wurzelt sie doch im unergründlichen Einen, das keinen Namen hat und sich durch die Liebe ewig in seine Schöpfung ergießt, im zeitlosen Moment ihrer mannigfaltigen Erscheinungsweisen.

 

Und weil diese Stadt mich, Tobias Gürtler, mit all meinen Irrungen und Wirrungen, meinen Talfahrten und Höhenflügen, Höllen- und Himmelsritten so lange getragen und mit ihrem Besten versorgt hat, fühle ich mich dazu berufen und auserwählt, ihr aus Dankbarkeit zu ihrem Recht als wahre und ewige Stadt der Liebe zu verhelfen, von der aus letztere in alle Welt überfließen möge…

 

Bielefeld, Liebefeld, Liebeswelt!

 

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