Tobias Gürtler

Verworfene Steine

Berlin 2016

Bismillahirrahmanirrahim

Einer muss es ja machen. Vielleicht auch zwei oder drei, oder sechs oder zehn, dreißig oder vierzig oder sechsundfünfzig. Tausend. Zwei mal Sechsundfünfzigtausend! Wer weiß das schon so genau? Wir sind das Zünglein an der Waage zum Erreichen der sogenannten kritischen Masse, die das Fass der Liebe zum Überlaufen bringt, wenn das Maß erfüllt ist… Der hundertste Affe!

54, 55, 56 Sterne, die um eine große Sonne tanzen. Das nötige Chaos habe ich definitiv in mir. Vielleicht bin ich diese große Sonne sogar selbst, als zentrales Gestirn im Morgengrauen einer neuen Ära, einer Neuen Liebeswelt, wenn Wolf und Lamm beisammen auf der Weide grasen. Ich, Wendepunkt, der ultimative König der Narren und Mr. Universe Judas, singende Kartoffel und Raum-Zeit-Derwisch, Antichrist und Christ zugleich, Verkünder des Postpsyschotischen Welttheaters als Universelles Gesamtkunstwerk, das uns gerade kollektiv den Arsch aufreißt, damit nachher die Sonne besser aus ihm scheinen kann. Passionierter Chaot und Multidilettant von Gottes Gnaden. Oder einfach nur verrückt.

Verrückt genug jedoch, um an eine andere, „bessere“ Welt zu glauben, jenseits von richtig und falsch, an dem Ort, wo wir uns zeitlos treffen, wir Täter und Opfer zugleich sind und beide transzendieren.

Das unanfechtbare Amt des ultimativen Königs der Narren habe ich bei meinem Eintritt in dieses Erdenleben zum einen als Tarnung gewählt, damit ich ungestört meine Arbeit als erstmalig inkarnierter Adam Kadmon und Weltgeschichten Pol der Zeit verrichten kann, zum anderen, um dem psychischen Leiden der Menschen früher oder später ein Ende zu setzen. Denn dadurch, dass ich im Verlauf meines schizophrenen Parcoursritt in wirklich jedem Winkel der Seelenhölle war und jeden gottverdammten Dämon geschluckt habe, ohne daran zu krepieren (Wunderpille sei Dank!), führe ich alle meine Leidensgenossen mit ins Paradies auf Erden, so dass es nach mir keinen König der Narren mehr geben wird.

Das Lustige daran ist, dass meine Tarnung derart effektiv ist, dass ich mir oft genug selbst und immer noch nicht sicher bin, ob ich damit den Durchblick habe oder mir doch nur irgendeinen Scheiß auf meine vermeintliche Wichtigkeit einbilde…

Auf jeden Fall kann ich nicht leugnen, dass ich zu einem gewissen Größenwahn neige, abgesehen von meiner unterschwelligen Paranoia, stets und überall vom Teufel persönlich gefickt zu werden. Das enorme Ausmaß meines krankhaften Narzissmus‘ ist der unwiderlegbare Beweis für meine außergewöhnliche Bedeutsamkeit. Schließlich hätte ich schon längst verreckt sein können, den gleichen Psychotod gestorben wie Mecnun, der an seiner Liebe zu Laila den Verstand verlor, weil sie ihm bis zum bitteren Ende verboten blieb. Den islamischen Mystikern, den Sufis, gilt Mecnuns Wahnsinn zwar als Gleichnis für die Vereinigung des Suchenden mit Gott, die dem Normalsterblichen rätselhaft und fremd bliebe – Sicherlich eine gültige Lesart der alten orientalischen Legende. Aber nicht die Einzige.

Eine weitere ließe sich aus dem griechischen Mythos von Actaeon ableiten, dem jungen Jäger, der nach dem überraschenden Anblick der badenden Göttin Diana von dieser in einen Hirsch verwandelt und deswegen von seinen eigenen Hunden gerissen wurde.

Vor siebzehn Jahren habe ich genau an dem seelischen Punkt weiter gemacht, an dem Van Gogh sich nur noch ein Ohr abschneiden und später die Kugel geben konnte. War er das verkannte Genie, das an seiner Verkennung verzweifelt war, oder war sein Temperament in sich so leidenschaftlich, dass es ihn in den Freitod trieb?

Damals haben mir die Pillen den Allerwertesten gerettetet. Dabei gleich noch das Universum mitgerettetetetet, inklusive Gott höchst selbst. Ohne Psychopharmaka wäre ich schon vor siebzehn Jahren krepiert, an der bloßen Angst vor – ja, vor was eigentlich? An der Angst vor der Angst? An meiner abgrundtiefen Scham vor Liebe, Sex und Zärtlichkeit?! Bei gleichzeitig überbordender Lust! Zum Glück gibt es auf dieser schönen weiten Welt die bunten Spielwiesen des Bordelleriewesens, allerlei Bumsclubs… und Neuroleptika!

Der rote Faden der Leidenschaft ist unversehrt… Hurra, wir leben noch!

Dass ich seither ein Studium in Kunst und Design abgeschlossen habe und vor sieben Jahren aus der Provinzmetropole Bielefeld im Ostwestfälischen Nirvana nach Berlin gezogen bin, hätte mir damals niemand zugetraut, weder Psychologen noch Ärzte noch Eltern noch ich selbst. Bei aller Altlast, die ich mit mir herumtrage und noch immer zu verdauen habe, scheine ich unter einem einigermaßen günstigen Stern geboren. Tobias Glücksdorn. Tobias! Gott ist Gnädig!

Kann man jemanden ernst nehmen, der solche Worte von sich gibt? Einen krankhaften Psychopathen wie mich? Möglicherweise sogar gemeingefährlich? Teilhaben lassen am gesellschaftlichen und kulturellen Leben? Liegt seinen Eltern immer noch auf der Tasche, kann seinen Lebensunterhalt nicht von seiner eigenen Hände Arbeit bestreiten, zumindest immer noch nicht ausreichend. Wegen meines mir unterstellten Schmarotzertums durfte ich mir das ein oder andere Mal den Vorwurf des Assis anhören, das verpflichtet natürlich: ein standesgemäßer Lumpenproletarier im Marx’schen Sinne, ein verkracht-verkackter Bohèmien will ich sein, Gammler, Bummler, Müßiggänger! Das Hartz-IV-Schikane-System hätte mich gleich wieder in die Klapse gebracht. Oder über die Gosse direkt ins Grab! So habe ich mir vorläufig mein privates bedingungsloses Grundeinkommen familiär eingerichtet. In meinem Freundeskreis haben sie alle einen Sprung in der Schüssel, mehr oder weniger. Bin ich zu durchgeknallt, bist du zu normal! Vielleicht noch viel schlimmer: ein Normalopath!?

Für Art Brut lasse ich mich ungern einspannen, heutzutage auch nur noch eine Schublade, die den Voyeurismus eines Bürgerlichen Publikums bedienen soll, obwohl ich durchaus zum exhibitionistischen Seelenstriptease neige. Für’s Establishment bin ich wahrscheinlich zu sperrig. Ungeschickt, uncoachable, zwischen allen Stühlen, passe in keine Kategorie, sprenge jeden Rahmen. Total offen, aber nicht ganz dicht. Too much information! Kein Talent für jedwede Art starrer Institution. Bin vermutlich auch (noch?) nicht belastbar genug, um mich dem stürmischen Gegenwind einer medialen Öffentlichkeit zu stellen. Keine widerborstige Rampensau, aber immerhin bühnengeil genug, um mich Stück für Stück vorzuwagen in den vermeintlichen oder tatsächlichen Olymp einer Kultur, die posthum Kafka feiert, während sie seine geistigen Nachfahren vor ihren verschlossenen Toren vergeblich warten lässt, ihrer äußeren Festung Europa gleich, nur subtiler versteht sich – auf dass sie alle fallen mögen! Und wenn ich nur die Hälfte des Weges schaffen sollte, ist mir das auch egal, so lange ich den Rest einreißen kann! Es geht längst nicht mehr um eitlen Ruhm, es geht um die Liebe und ihren Eros, es geht ums Ganze, ums Paradies auf Erden, dessen Vorbote, geheimes Zeichen und Wunder ich bin, ich schwör‘! „Das ganze Universum ist völlig wahnsinnig!“ Gefällt dir das?

So lasse dir abschließend sagen: verwirfst du mich, so trage ich dich doch – bis ans Ende aller Tage! Zu Risiken und Nebenwirkungen lesen Sie die Packungsbeilage und fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker… HALLELUJAH!

Tobias Gürtler a.k.a Jakob Adamek, Autor des Buches „Ich, Wendepunkt